2019 - Demokratie und Werteerziehung

Dokumentation der FORUM 2025 Veranstaltung "Demokratie und Werteerziehung - Chancen und Grenzen sozial- und sonderpädagogischer Jugendhilfe" vom 20. November 2019

Im Jahr 2018 beschäftigte sich das FORUM 2025 mit den digitalen Herausforderungen für Mitarbeitende und Betreute. Im November 2019 erweiterte eine halbtägigie Veranstaltung unter dem Titel "Demokratie und Werteerziehung" den Blickwinkel. Ziel war es Chancen, aber auch Grenzen (sonder-)pädagogischer Arbeit bei der Vermittlung demokratischer Werte in einem sich rasant ändernden digitalisierten Umfeld zu beleuchten.

Eine Reihe an Fragen standen dabei im Mittepunkt:

  • Was bedeutet Demokratie und Werteerziehung für die Arbeit im Alltag?
  • Sind pädagogische Fachkräfte dafür genügend vorbereitet?
  • Wie und wo werden die notwendigen Kompetenzen erworben?
  • Wie intensiv wird das soziale Umfeld einbezogen?
  • Wie positionieren sich pädagogische Einrichtungen in diesem Bereich in der Öffentlichkeit?
  • Stimmt die These, dass eine gelingende Verbindung von Bildung, Erziehung und Vorbildverhalten von pädagogischen Mitarbeitenden genügt, um betreute Kinder und Jugendlichen zu kritischem Denken und eigenverantwortlicher Lebensführung zu befähigen?
  • Benötigt es andere alternative Konzepte?

Moderiert und eingeführt vom Pädagogischen Vorstand der Stiftung Jugendhilfe aktiv Ulrich Teufel startete die Veranstaltung mit einem "Wort zum Tag" der Degerlocher Dekanin Kerstin Vogel-Hinrichs. Es folgte nach einer Einführung in die Veranstaltung durch Ulrich Teufel ein Referat von Prof. Dr. Elisabeth Conradi, Professorin für Philosophie und Gesellschaftstheorie an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg mit Sitz in Stuttgart.

Zwei Mitarbeitende der Stiftung, Carolin Westermann, Lehrerin und Koordinatorin Mädchenarbeit an der Dietrich-Bonhoeffer-Schule in Stuttgart-Plieningen, und Michael Winkel, Bereichsleiter in der Region Stuttgart, näherten sich der Thematik in einem Dialog. Das zweite Referat hielt der Amtsleiter des Amtes für Jugend in Böblingen Wolfgang Trede.

Nach einer Pause folgte ein von Herrn Teufel moderiertes Podium, an dem neben Kerstin Vogel-Hinrichs, Elisabeth Conradi, Carolin Westermann mit Michael Backhaus, Mitarbeitender der Fachstelle für Europäische Studien, Werte und Demokratieentwicklung Mariaberg teilnahm. Den zweiten Teil des Podiums bildeten Fragen und Kommentare aus dem Auditorium.

Kerstin Vogel-Hinrichs

Gerechtigkeit, Wohltägigkeit, Gleichheit

Kerstin Vogel-Hinrichs hielt das "Wort zum Tag". Frau Vogel-Hinrichs ist Dekanin und Mitglied des Stiftungsrats der Stiftung Jugendhilfe aktiv. In ihrem kurzen Vortrag richtete sie den Hauptaugenmerk auf Gedanken zu ethischen und moralischen Grenzen und Möglichkeiten persönlichen Tuns. Grenzüberschreitungen - was geht, was nicht? - sind, so Vogel-Hinrichs, täglich Thema in der Arbeit von Sozial- und Sonderpädagogen. Dabei stelle sich stets die Frage welche Werte vorgelebt und weitergegeben werden können.

In der Lutherübersetzung fehle, so ein Gedankengang von Vogel-Hinrichs, beim Wort Gerechtigkeit die im Hebräischen stets auch mitgedachte Bedeutung der Wohltätigkeit. Teilen, abgeben und einander wohltun sei ein zentrales Ziel pädagogischer Arbeit. Aus diesem Wohltätigkeitsverständnis heraus gründete Königin Pauline Anfang des 19. Jahrhunderts sogenannte "Wohltätigkeitsvereine". Paulinenpflege und Wilhelmspflege, heute Teil der Stiftung Jugendhilfe aktiv" wurden vom Wohltätigkeitsverein als "Rettungshäuser" für bedürftige Kinder gegründet.

Demokratie führte Frau Vogel-Hinrichs fort, und nahm damit den zweiten Begriff aus dem Titel der Veranstaltung in den Blick, sei in der Bibel keine Größe. Gleichheit dagegen sehr wohl. Fehle Gleichheit und Teilhabe, dann habe es Demokratie schwer.

Ulrich Teufel

Wertvorstellungen angesichts digitaler Medien

Ulrich Teufel betonte in seinem einführenden Statement die Bedeutung einer regelmäßigen Vergewisserung darüber, welche Wertvorstellungen in der pädagogischen Arbeit von Bedeutung seien. Hierbei hob er insbesondere auf die Veränderungen durch digitale Medien, insbesondere des Smartphones, ab. Ungeachtet der Auseinandersetzung mit Vor- und Nachteilen von sozialen Medien bleibte es, so Teufel, weiterhin Hauptziel Kinder und Jugendlichen zu einem selbstverantwortlichen Leben zu erziehen. Hierbei lohne sich - gerade wenn die tägliche Arbeit hierfür wenig Platz bietet -  ein allgemeiner Blick auf den Wertekanon, der das Handeln von Betreuern wie Betreuten bestimmt.

Elisabeth Conradi

Wertevermittlung und gelingende Praxis

Prof. Dr. Conradi setzte in Ihrem Vortrag Diskriminierung und ziviles Handel in den Mittelpunkt. Dabei definierte sie Diskriminierung als Erscheinung, in der Menschen "verallgemeinernd und bewertend im Beisein anderer Mensch über deren Verhalten oder körperliches Erscheinungsbild sprechen". In Folge arbeitete sie heraus, dass Betreute in der Jugendhilfe oftmals beide Möglichkeiten an Diskriminierung erlebten, also oftmals Diskriminierte und Diskrimierende zugleich seien.

Als möglichen Lösungsweg aus der Falle diskrimierenden Verhaltens legte Frau Conradi die Möglichkeiten "zivilen" Handelns dar. Ziviles Handeln sei geprägt durch umgängliches Verhalten, den Verzicht auf Gewalt und ein diskussionsoffenes Klima. Aufgabe von Pädagogen sei es daher, den Augenmerk weniger auf eigene "Haltung" zu legen, sondern im eigenen Verhalten "ziviler" zu werden, um dadurch gemäß des Prinzips des "Learning by Doing" Kinder und Jugendliches ziviles Verhalten zu eröffnen.

Durch diese "gelingende Praxis" würden sie Teil einer funktionierenden pluralistischen Demokratie und könnten diskriminierende Gesellschaften verändern. Dabei sei es die Aufgabe der Pädagogen  "gelingende Praxis" zu bescheiben, fortzuführen und durch diesen Prozess eine Verbesserung des Zusammenlebens, etwa in Wohngruppen und Schulklassen zu bewirken.

Carolin Westermann und Michael Winkel

Sonderpädagogik und Schulpädagogik im Dialog

Carolin Westermann und Michael Winkel stellten in eine Dialog Aspekte von Demokratie und Wertevermittlung im sonderpädagogischen und sozialpädagogischen Arbeitsfeld dar und verdeutlichten im Gespräch Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Sonderpädagogik und Sozialpädagogik.
 

 

Wolfgang Trede

Heimerziehung als Schule der Demokratie?

Wie viel Bildung in der Jugendhilfe passieren kann und soll, ist umstritten. Ambitionierte Ansätze demokratischen und selbstbestimmten Handelns in Schule und Erziehung aus den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts spielen heute kaum eine Rolle in der Heimerziehung. Dabei identifizierte Trede ein Hauptproblem darin, dass Partizipation zwar weiter fachwissenschaftlicher Standort pädagogischer Forschung sei, in der Praxis aber vernachlässigt werde.

Dies sei angesichts der Erbebnisse der 2019 veröffentlichten Shell-Studie problematisch. Zeigt die Studie nämlich trotz einer in Ost wie West hohen allgemeinen Demokratiezustimmung ebenfalls eine steigende Zustimmung in populistische Positionen bei Jugendlichen und jungen Menschen.

Als mögliche Gegenreaktion plädierte Herr Trede dafür, die bereits vor 30 Jahre postulierten Kinderrechte als Leitschnur pädagogischen Handelns heranzuziehen. Partizipation als eine umfassende Kultur der Beteiligung, sei es in Form von Projekten oder Beteiligungsgremien, lieferten die Erfahrungen, die Jugendlichen eine eigenständige Demokratiebildung eröffnen. Dazu zählten auch altersgerechete Information über Rechte und Pflichten und unabhängige Beratungs- und Beschwerdemöglichkeiten.

Michael Backhaus

Demokratische Werte in Europa

Michael Backhaus bekleidet in der diakonischen Einrichtung Mariaberg in Gammertingen eine Fachstelle für Europäische Studien, Werte und Demokratieentwicklung. Er lenkte in seinem Anfangsstatement zu Beginn des Podiums den Fokus auf die unterschiedlichen Gewichtungen, welche er in seiner Arbeit mit europäischen Partnern in Bezug auf Werte und Demokratieentwicklung feststellt. Insbesondere hob er den hohen Mehrwert  hervor, den Mitarbeitende aus der Arbeit in europäischen Nachbarländern gewinnen.

 

 

Podium

Den zweiten Teil der Veranstaltung bildete ein fünfköpfiges Podium, welches aus Ulrich Teufel als Moderator, den Referenten und einem zusätzlichen Gast, Michael Backhaus bestand.

Inhaltlich wurde die Frage diskutiert inwiefern Werte- und Demokratieerziehung in Zwangskontexten wie Schule und Wohngruppe sinnvoll erfolgen kann. Teilhabe an Entscheidungsprozessen wurde übereinstimmend von allen Beteiligten als essentiell für den Erwerb demokratischer Grundhaltungen betont. Problematisch wurde die Eindirektionalität im Begriffs der Erziehung und der Wertevermittlungn besprochen. Werte müssten gelebt werden, so der Tenor. Es gehe um Gruppenkonzepte, um Strukturen, die demokratische Haltungen erleben lassen und dadurch demokratische Formen des Umgangs.

Ein weiterer Punkt war die Feststellung, dass Betreute selbt bei bestehenden Wertekonzepten in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich handeln. Moralvorstellungen änderten sich im Kontext der sozialen Situation, Täter können so zu Opfern, Opfer zu Tätern weden. Doch wo, wenn nicht in der Wohngruppe, könnten zivilisierende Prozesse entstehen? Regeln und Strukturen seien zwar wichtig, aber von außen gesetzt. Aus der Runde wurde daher vorgeschlagen, Bemächtigung der Jugendlichen zuzulassen und zu ertragen. Jugendliche setzen dabei eigene Regeln - so entstehe Demokratie.

Zugleich wurde das Problem thematisiert, dass Demokratie sich in Räume verlagert habe, die in ihrer Grundstruktur und Verfasstheit nicht demokratisch seien. Der Lehrer, die Erzieherin gibt vor. Gegenmodell dieser Zwangsstrukturen sei (noch) der Verein und offene Jugendarbeit. Beide stünden allerdings zunehmend in der Gefahr Erfüllungsgehilfen von Ganztagesschulen zu werden und so ihre Autonomie zu verlieren.

Dem Vorwurf, Schule sei eine Zwangseinrichtung wurde entgegengehalten, dass Erziehung als Beziehung verstanden ein Miteinander bedeutete, in dem Regeln zwischen Schüler und Lehrer aushandelbar seien. Rückmeldungen seien möglich, demokratische Strukturen im Unterricht einbaubar. Die Tatsache, dass ein bestehendes Gerechtigkeitsbewussstsein nicht in allen Situationen abrufbar sei, wäre ein Zeichen der sich vergrößernden Bedürftigkeit von Schülern, in diesem Fall konkret Schülerinnen. Ein Einwurf aus dem Publikum betonte in diesem Zusammenhang, dass im pädagogischen Alltag der Widerspruch zwischen den Werten der Familie und der Wohn- oder Tagesgruppe oftmals enorm sei. Dies führe unbedingt zur Notwendigkeit, Eltern und Familien im Arbeitskontext mit einzubeziehen. Ein weiterer Einwurf postulierte, dass es einer Haltung bedürfe, um aus diesem Standort heraus Brücken zur Diskussionsoffenheit zu bauen.

Wünsche und Visionen in 10 Jahren:

In einer Abschlussrunde wurden das Podium nach Wünschen und Visionen in Bezug und mit Blick auf das eigene Arbeitsfeld befragt.

Frau Westermann wünscht sich, dass Mädchenarbeit zu einem anerkannten Angebot in Schulen wird und multiprofessionelle Teams mit den Kindern und Jugendlichen arbeiten.

Frau Conradi prognostizierte ein noch höheres Maß an Umgang mit digitalen Medien. Studierende, so ihre Erfahrung, lesen kaum noch Zeitung, schauen nicht Tagesschau; Informationen würden primär aus dem Netz bezogen. Persönlich stelle sich für sie die Frage, ob Sie sich stärker in diesen Bereich hineinbegeben will oder muss. Ein Generationssplit sei heute schon im Umgang mit digitalen Medienangeboten in Ihrem Kollegium evident. Für den Bereich der Jugendhilfe wünsche sie sich, dass sexualisierte Gewalt in zehn Jahren kein Thema mehr sei. Sie frage sich, was Sie, was wir hierzu beitragen könnten. .

Frau Vogel-Hinrichs sieht in zehn Jahren große Umstrukturierungen in der Kirche angesichts zurückgehender Mitgliederzahlen. Doch Kirche sei auch weiterhin eine wichtige Stimme in der Gesellschaft. Sie wünsche sich, dass  Menschen Kirche für sich wieder neu entdecken können.  Shopping und Eventreisen gäben den Menscheb auf Dauer keine Antwort auf existentielle Fragen. Sie wünscht sich auch weiterhin, dass die Gesellschaft es sich leistet, auch behinderte und alte Menschen ein gutes Leben zu garantieren. Die Diakonie als Aushängeschild der Kirche habe allerdings ein Imageproblem: Öffentlichkeitsarbeit und Werbung müssen unbedingt verbessert werden. Gutes tun und darüber reden benötige professionelle Öffentlichkeitsarbeit, gerade auch in den Sozialen und digitalen Medien. Hierfür müsse mehr Geld investiert werden.

Herr Trete sieht, dass Jugendhilfe und Schulpädagogik auch in Zukunft weiterhin notwendig seien und sich grundsätzlich nichts an den Rahmenbedingungen ändere. Zugleich betrachte er die Umbrüche im Mobilitätsverhalten und Automobilindustrie mit Sorgen, da hierauf der Wohlstand gerade der Region Böblingen fuße.  Maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz würde zahlreiche Berufsgruppen unnötig machen, dies betreff allerdings soziale Berufe nicht. Pädagogisch sei er weiterhin ein hoher Fürsprecher für  Beteiligungsprojekte und die Arbeit für  Careleaver. Angesichts des Fachkräftemangels müsse die Ausbildung in Sozialberufen attraktiver werden. Dazu zähle eine bessere Bezahlung von Personen an der Basis - attraktive Rahmenbedingungen wie etwas Sabattregeln für pädagogische Mitarbeitende. Sozialpolitisch müsse beispielsweise die Altersgrenze, bei der Jugendhilfe ausläuft von 21 Jahren auf 25 Jahre erhöht werden, um junge Erwachsene ohne Beziehungsabbruch in ihrer Verselbstständigung wo nötig länger begleiten zu können. 

Herr Backhaus wünscht sich als persönliche Vision in zehn Jahren einen europäischen Pass in Händen zu halten. Für die Schule und Jugendhilfe wünscht er sich, dass das Smartphone in die Arbeit mit Jugendlichen mit einbezogen wird, um diese darin zu bemächtigen sich auch hier korrekt und mit einem demokratischen Selbstverständnis zu bewegen. Momentan würde das digitale Feld oftmals extremistischen Richtungen überlassen. Europa sehe er in der Arbeitsmarkpolitik am Scheideweg. Auf Basis des Fachkräftemangels in Deutschland würden weniger solvente europäische Nationen einen Braindrain erfahren, der für diese Länder existentiell sei. Es müssten Verfahren gefunden werden, mit diesem Phänomen sozialverträglich umzugehen.

Referentinnen und Referenten der Veranstaltung