175 Jahre Wilhelmspflege Plieningen

Im Jahr 2016 feierte die Wilhelmspflege ihr 175jähriges Jubiläum. 

Am 24. November 2016 wurde in einer zentralen Festveranstaltung gemeinsam mit 250 Gästen das Jubiläum mit Beiträgen von betreuten Kindern, Grußworten und einem Festvortrag begangen. Festort war die Turnhalle der Dietrich-Bonhoeffer-Schule auf dem Plieninger Gelände der Wilhelmspflege.

Die folgenden Artikel geben einen zusammenfassenden Einblick in die Redebeiträge des Vormittags. Auf der rechten Seite findet sich eine ungekürzte Audioaufnahme des Festvortrags von Wilfried Knorr.

 

Ulrich Teufel, Pädagogischer Vorstand

Nach einer musikalischen Eröffnung durch eine Kindergruppe unter Leitung des Musiklehrers der Dietrich-Bonhoeffer Schule Andreas Gebhardt begrüßte der Pädagogische Vorstand Ulrich Teufel die geladenen Vertreter des Diakonischen Werkes, der Jugendämter Stuttgart und Esslingen, der Schulämter aus Stuttgart, Esslingen und Nürtingen, des KVJS und der Kommunen sowie die Stiftungsräte und die anwesenden ehemaligen und aktuellen Mitarbeiter und Klienten der Stiftung Jungendhilfe aktiv.

Die Wilhelmspflege, so Ulrich Teufel, sei seit 10 Jahren Teil der Stiftung Jugendhilfe aktiv. Diese habe in diesem Zeitraum ihre Mitarbeiterzahl von 365 Mitarbeitern auf 840 Mitarbeiter in den Schulen und sozialpädagogischen Einrichtungen der Stiftung gesteigert.

Hauptaufgabe der Stiftung sei es weiterhin, die pädagogischen Angebote und Konzepte passgenau und wirksam auf die Bedürfnisse der Kinder, Jugendlichen und Familien anzupassen. Eine wichtige Voraussetzung für diese Arbeit sei eine finanziell solide Basis, was momentan ganz gut gelänge.

Wichtigste Voraussetzung für eine auch in Zukunft positive Entwicklung sei die Zufriedenheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.  Anders als in manchen großen Industrieunternehmen seien diese, niemals nur Mittel zum Zweck. Gute Rahmenbedingungen, einen krisenfesten Arbeitsplatz, hohe Selbständigkeit in der Arbeit seien hierfür wichtige Eckpfeiler. Hinzu komme die spirituelle Einbindung in ein großes Ganzes. Als diakonische Einrichtung werbe die Stiftung Jugendhilfe aktiv dafür, dass diese Einbindung auf dem christlichen Glauben basiert.

Die Integration der drei Schwerpunkte Mitarbeiterführung, Finanzen und Pädagogik sei ein nie endender Prozess. Daraus erwachse der Auftrag, den Leitspruch der Stiftung "Lust auf Leben! Zukunft stiften" immer wieder aufs neue mit Leben zu füllen. 

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Thomas Kuhn, Regionalleiter Stuttgart

Zu Beginn seiner Begrüßungsworte erwähnte der Stuttgarter Regionalleiter Thomas Kuhn einige Gäste, die in den zurückliegenden Jahren eine wichtige Rolle für die Wilhelmspflege spielten. Hierzu zählt der ehemalige Vorstand der Wilhelmspflege, später der Stiftung Jugendhilfe aktiv Helmut Mertens, der über mehr als drei Jahrzehnte die Geschicke der Einrichtung leitete.

Als zweites begrüßte Thomas Kuhn Eberhard Bügner, der, so Kuhn,  in kongenialer Zusammenarbeit mit Helmut Mertens ab 1992 die strategische Neuausrichtung der Stiftung als Wirtschaftlicher Vorstand gestaltete und für eine wirtschaftlich solide Entwicklung der Einrichtung sorgte.

Stellvertretend für den gesundheitlich verhinderten  Dr. Ottmar saß dessen Ehefrau unter den Gästen. Thomas Kuhn bat sie, ihrem Mann, der über vier Jahrzehnte die Stiftung als Stiftungsrat, ehrenamtlicher Vorstand und schließlich als Stiftungsratsvorsitzender bis zur Fusion 2005 begleitet hatte, herzlichste Grüße auszurichten.

Als nächstes richtet Herr Kuhn sein Wort an Herrn und Frau Bleich. Herr Bleich war Stiftungsratsvorsitzender bis 2002, und begleitete die Einrichtung auch in schwierigen Zeiten, immer auf Ausgleich und eine gute Lösung ausgerichtet.

Ebenfalls begrüßte Herr Kuhn persönlich Herrn und Frau Hörrmann, die sich während ihrer Arbeit in der Wilhelmspflege kennengelernt hatten und vor 50 Jahren als Hauseltern die Wilhelmspflege leiteten, er als Heim- und Schulleiter, sie als Hauswirtschaftsleiterin.

Herr Kuhn ging daraufhin auf die Geschichte der Wilhelmspflege ein. Er verwies darauf, dass seit nun 175 Jahre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter all ihre Mühe auf die Erziehung und Ausbildung von Kindern verwendeten und auch, wenn er in seinem Büro der vor 175 Jahren eingeweihten Kinderrettungsanstalt säße, etwas von dieser Tradition verspüre.

Für diesen unermüdlichen Einsatz, damals wie heute, wolle er sich an diesem Jubiläumstag ganz herzlich bei allen Ehemaligen und Aktiven bedanken. Die Mitarbeiterschaft und hierbei stimmte er mit dem pädagogischen Vorstand Herrn Teufel voll überein, so Kuhn, sei das wichtigste Gut der Einrichtung.

Qualitativ und quantitativ sei die Wilhelmspflege gewachsen. Bis Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts klassisch orientiert, sei die Wilhelmspflege in den zurückliegenden 30 Jahren zu einer im Sozialraum orientierten hochflexiblen Einrichtung geworden. Seien 1991 zum Zeitpunkt der 150-Jahrfeier in der Jugendhilfe der Wilhelmspflege 70 Mitarbeiter tätig gewesen, so wären es mittlerweile 200 Mitarbeiter.

Auch heute seien sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einig mit den Menschen, die in den zurückliegenden Jahrhunderten hier wirkten,  all ihren Einsatz und Engagement für Kinder Jugendliche und Familien einzubringen, um sie auf Ihrem Lebensweg zu unterstützen.

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Maria Waltner, Schulleiterin DBS

Auch Frau Waltner stellte vor Ihrer Begrüßung einige der Gäste aus dem schulischen Bereich namentlich hervor. So begrüßte sie unter den Gästen Thomas Franz als ehemaligen Schulleiter der Dietrich-Bonhoeffer-Schule bis 2006 und Dr. Wolfgang Neidhard, der als langjähriger Supervisor die Ausrichtung der Dietrich-Bonhoeffer-Schule entscheidend mitgestaltete. Ebenfalls hieß sie den ehemaligen Konrektor Thomas Stöppler willkommen, der inzwischen als Seminarleiter in Stuttgart tätig ist. Ebenfalls erwähnte Sie die langjährige Leiterin des Sonderschulkindergartens Monika Wurst.

Ihre Begrüßung begann Frau Waltner mit einem Zitat von Reinhold Messner. Es gelte seit der Jungsteinzeit, dass das Glück und das gute Leben der Anstrengung bedürfe. Unter diesem Motto, so Waltner, stünde auch die Arbeit an einer Schule für Erziehungshilfe. Für die tägliche Arbeit mit den Schülern benötige es heute wie damals Lehrerpersönlichkeiten, die belastbar seien, die Konflikte und Niederlagen nicht scheuten, und Toleranz, Großmut und Humor mitbrächten.

Laut den Chroniken aus der Geschichte der Wilhelmspflege, so Waltner,  gab es in den Jahrzehnten nach Gründung des Rettungshauses nur eine Klasse und einen Lehrer. Am Morgen wurden die Jungen unterrichtet, die Mädchen hatten Kochen oder Wäschewaschen; am Nachmittag die Mädchen, die Jungen halfen dann auf den Feldern oder im Stall.

1904 wurde das erste einstöckige Schulhaus erbaut, das neue Schulhaus entstand 1968. Zu dieser Zeit erhielt die Schule den Namen Dietrich-Bonhoeffer-Schule. Küchen, Stall- und Feldarbeit gebe es nicht mehr, aber die Schule bemühe sich, durch verschiedene Maßnahmen an diese Tradition anzuknüpfen. Wie damals kochten beispielsweise Lehrerinnen und Lehrer mit Schülerinnen und Schülern dreimal in der Woche für die ganze Schule.

Die Schule habe heute mit 24 Außenstandorten ein sehr ausdifferenziertes Förderangebot, was auf die spezifischen Bedürfnisse der Kinder eingehe. Dies geschehe in enger Zusammenarbeit mit externen Anbietern aber insbesondere auch mit den Jugendhilfeangeboten auf dem Gelände. Schwierig würde es aber, wenn sozialpädagogische Angebote wegen Ihrer Freiwilligkeit eingestellt würden und die Schule nur noch den einzigen und alleinigen Anlaufpunkt für Kinder und Eltern darstelle. Hier bestünde noch Entwicklungsbedarf.

Gemeinsam mit Regelschulen würden innovative Wege im Bildungssystem beschritten. Durch die gute Kooperation mit der Pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg und mit dem Schulseminar in Stuttgart sei die Dietrich-Bonhoeffer-Schule als Ausbildungsschule sehr gefragt.

Durch den guten Zusammenhalt im Kollegium und einer starken Schulgemeinschaft käme man manchmal dem eingangs zitierten Zitat vom Glück des guten Lebens ein Stück näher.

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Dr. Susanne Heynen, Jugendamt Stuttgart

Susanne Heynen zeigte sich in Ihrem Grußwort an die Wilhelmspflege beeindruckt vom "Mantel der Geschichte", auf den die Vorredner hingewiesen hatten. Der Blick auf die Geschichte ermögliche es, so Heynen, Dinge genauer zu betrachten und das Gute zu wiederholen und Fehlern zu vermeiden.

Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und die grundsätzlichen Ziele der Jugendhilfe hätten sich in den zurückliegenden Jahrhunderten verändert. Gleich geblieben sei der Blick auf besonders  Benachteiligte und die Tatsache, dass Kinder von alleinerziehenden Frauen und neu zusammengesetzten Familien besonderer Förderung bedürften.

Sie schätze die professionelle Ausrichtung der Stiftung Jugendhilfe aktiv, was sich im Engagement der Mitarbeiter zeige. Die Stuttgarter Kinder, Jugendlichen und Familien könnten sich sicher sein, dass ihnen mit den differenzierten Angeboten der Stiftung Jugendhilfe aktiv auch in schweren Lebenslagen Unterstützung geboten werde. Die Stiftung sei ein zuverlässiger und kompetenter Partner und ein wichtiger und integraler Bestandteil der Stuttgarter Jugendhilfelandschaft. Sie wünsche sich, dass dies so bleibe.

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Thomas Stöppler, Sonderschulseminar Stuttgart

Herr Stöppler begann sein Grußwort mit einem Dankeschön für die gute Zusammenarbeit im Bereich der Qualifizierung der Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen. Dies sei eine ganz wertvolle Aufgabe in Baden-Württemberg. Nach vielen politischen Turbulenzen in den letzten Jahren sei es durchgesetzt worden, dass es auch weiterhin eine eigenständige sonderpädagogische Ausbildung gebe. Dies sei ein großer Kampf gewesen. In seinen Dank schließe er ausdrücklich nicht nur die Mitarbeiter der Schule ein, sondern auch die Mitarbeiter der Jugendhilfe in Plieningen.

Angeworben von Thomas Rank, heute Konrektor der Dietrich-Bonhoeffer-Schule, sei er, Stöppler, vor 35 Jahren von  Thomas Franz aus dem Bett geklingelt worden. Zu dieser Zeit war die Schule mit acht Kolleginnen und Kollegen noch ganz klein. Ziel sei es damals gewesen, eine professionelle Beziehungsarbeit als Kern der Schule für Erziehungshilfe zu entwickeln, die neben der Arbeit mit den Kindern und Eltern auch die Optimierung der Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern der Jugendhilfe auf dem Gelände beinhaltete.

Schule für Beziehungshilfe

Beziehungsarbeit sei heute als zentraler Aspekt aller sonderpädagogischen Handlungen erkannt. In diesem Zusammenhang erinnerte Thomas Stöppler an einen Aussage der Kollegen Neidhart, die Schule für Erziehungshilfe in Schule für Beziehungshilfe umzubenennen. Ein weiteres Großthema sei während seiner Arbeit an der Dietrich-Bonhoeffer-Schule sichtbar geworden - das Denken in Systemen. Daraus sei der Ansatz der Kooperationen mit anderen Instanzen entstanden, die die Schüler tangieren, bis hin zu Kooperationen mit anderen Schulen. Dieser systemische Ansatz sei heute ein Kernstück der Lehrerausbildung.

Als dritten Bereich, der zur Zeit seines Wirkens in der Dietrich-Bonhoeffer-Schule eine wichtige Rolle gespielt habe, sei die Entwicklung von unterrichtlichen Konzepte gewesen. Dies habe in starker inhaltlichen Auseinandersetzung beispielsweise mit der Montessoripädagogik - hier erwähnte er Monika Rossberg - aber auch mit handlungsorientierten Ansätzen geschehen. Als Beispiel nannte Thomas Stöppler das Projekt Scheunenausbau, welches damals mit dem heutigen Schulleiter Werner Bauer in Kirchheim umgesetzt wurde.

Von Plieningen aus gingen laut Stöppler auf diese Weise zahlreiche Impulse in die sonderpädagogische Bildungslandschaft Baden-Württembergs aus, die sich heute in den aktuellen Bildungsplänen des Bundeslandes wiederfänden. Dadurch werde deutlich, welch große Rolle die Wilhelmspflege im Bereich der Sonderpädagogik gespielt habe und als Impulsgeber immer noch spielt.

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Eva-Maria Armbruster, Diakonisches Werk Württemberg

Eva-Maria Armbruster ging in ihrem Grußwort auf die Situation der Heimerziehung in Württemberg ein. Früher, so Armbruster, fand Heimerziehung auf dem Land statt. Die als Kinderrettungsanstalt im 19. Jahrhundert gegründete Wilhelmspflege sei in diesem Zusammenhang als Stuttgarter Anlaufstelle für Kinder in schwierigen Lebenslagen ein Novum gewesen.

Immer schon war die Verbindung von Schule und Erziehung ein wichtiges Merkmal der Einrichtung. Die Ausdifferenzierung der Angebote in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts ging einher mit zusätzlichen Angeboten von Schule und Sozialpädagogik auf die Fildern und in zusätzlichen Stadtgebieten Stuttgarts. Nach der Übernahme des Theodor-Rothschild-Hauses in Esslingen Im 1991 und der Fusion mit der Rohrer Paulinenpflege sei die Stiftung Jugendhilfe aktiv mittlerweile der größte freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe in der Region Stuttgart.

In der Wilhelmspflege in Plieningen seien die schwierigen Kinder willkommen. Bundesweit bekannt sei das von der Wilhelmspflege getragene und mitentwickelte innovative Stuttgarter Konzept sozialraumorientierter Jugendhilfe und fallübergreifender Zuständigkeiten.

Die umfangreichen Angebote für autistische Kinder in Plieningen, ein Eltern-Kind-Treff in Vaihingen, Angebote im Bereich Antigewalttraining sind Beispiele für hervorragende Angebote. Einen wichtigen Stellenwert habe im zurückliegenden Jahr die Aufnahme von jugendlichen Flüchtlingen gespielt. Diese Fähigkeit und Bereitschaft habe die Leistungsfähigkeit der Stiftung bewiesen, in außerordentlichen Notsituationen zu helfen. Die Einrichtung sei kein Tanker, sondern beweglich.

Für das diakonische Werk habe die Wilhelmspflege und die Dietrich-Bonhoeffer-Schule aufgrund ihres innovativen Potentials eine ganz besondere Bedeutung und wirke aktiv mit im Fachverband Kinder, Jugendliche und Familie.

Schwierige Kinder müssten stets als Kinder in Schwierigkeiten verstanden werden. Ihre Schwierigkeiten seien oftmals eine Antwort auf die Schwierigkeiten, die wir ihnen als Gesellschaft zumuten. Dazu zählten Armut, ungleiche Bildungschancen und Krieg.

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Wilfried Knorr: Festvortrag

Im Zentrum des Festvortrags von Wilfried Knorr unter dem Titel "Von der Zukunft her führen - die nächsten 17,5 Jahre" standen Thesen im Rahmen eines Buches namens "Theorie U" von C. Otto Scharmer. Der in den USA lehrende deutsche Wissenschaftler Scharmer gehe davon aus, so Knorr, dass wir vor einem Übergang vom "Ego-System" zum "Öko-System" stünden. Dieser Wandel beträfe alle relevanten gesellschaftlichen Subsysteme, sei es Wirtschaft, Bildung, Erziehung oder Politik.

Von der Zukunft her zu führen sei grundsätzlich unterschiedlich zum erfahrungsbasierten Entscheiden, welches der gewohnten Praxis in der Sozialen Arbeit entspräche. Doch bestünde in diesem Ansatz die Gefahr, rückgewandt zu agieren und dadurch Innovationen und Veränderung zu verhindern.Basis des Ansatzes von Scharmer sei es dagegen, die größtmögliche Verwirklichung von Zukunft zu imaginieren und dadurch Veränderungsprozesse zu ermöglichen.

"Welchen Rat würde ihr zukünftiges Ich Ihrem heutigen Ich geben" C. Otto Scharmer

Ob im persönlichen oder im beruflichen Bereich gehe es stets um ein gemeinsames "Hinspüren" und Befragen, wo und wie sich eine Person oder eine Institution in der Zukunft sehe. Ziel sei es dann, von einem so entstehenden gemeinsamen Bild ausgehend gemeinsam die größtmögliche Verwirklichung dieser Zukunft zu erarbeiten.

Erster Schritt dabei sei das Beobachten, verstanden als gemeinsames "Sehenlernen" dessen was existiert. Diesem folge eine spezifische Form des Zuhörens, die Knorr anhand von vier Stufen darstellte. Diese Stufen stünden bildhaft zugleich für den Abwärtsbogen des geschriebenen Us.

Erste Stufe sei eine Art Faktencheck, ein "downloaden ", wie Knorr ausführte, von Information. Dem folge die Stufe des Streiten, des kontroversen Gesprächs, was in pädagogischen Kreisen durchaus bekannt sei, so Knorr mit einem Augenzwinkern.

Sehr viel schwieriger stelle sich die dritte Stufe dar: das empathische Hören. Als vierte und höchste Stufe beschrieb Wilfried Knorr die selten erreichte Fähigkeit, zuhörend im Kontakt mit dem Gegenüber darauf zu vertrauen, verändert aus einer Begegnung hervorzugehen.

Zukunft als gemeinsames Bild

Wenn dies gelänge, könne das nun entstehende Ankommen am tiefsten Punkt des Us zu einem spirituell aufgeladenen Moment werden. Dort angekommen, ginge es darum, nicht eine entstandene gemeinsame Imagination als Endprodukt zu sehen. Knorr verwandt hier das Bild eines entstandenen Gemäldes. Bildhaft gesprochen, solle man sich das Entstandene nicht als fertiges Bild, sondern eher als vorderhin leere nun bemalte Leinwand vorstellen. Ein Prozess, im dem die Maler vor einer leeren Leinwand imaginiert werden. Wie diese Maler könnten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer Organisation gemeinsam Zukunft imaginieren und auf diese Weise ein gemeinsames Bild entstehen lassen.

Aus diesem so entstehenden Bild könne ein Prototyp zukünftigen Handelns als Modell abgeleitet werden. Dieser Ansatz entspräche, so Knorr, durchaus einer pädagogischen Grundhaltung, stimme er doch mit der Kernidee beispielsweise eines Hilfeplans überein. Darin ginge es ebenfalls nicht primär darum, zu beschreiben, was ein Jugendlicher kann oder nicht kann, sondern darum, darüber nachzudenken, was er können werden kann.

Ein aus dem oben beschriebenen Prozess entstandener Prototyp müsse nun im Rahmen der Realisierung vom U-Grund aufsteigend, den Buchstaben komplettieren.

Im Mittelpunkt des zweiten Teils seines Festvortrags stand die Frage nach konkreten zukünftige Implikationen dieses Ansatz für die Wilhelmspflege als Teil der Stiftung Jugendhilfe aktiv. Ausgehend von der Frage, was die Gründerväter der Wilhelmspflege wohl vor 175 Jahren als größtmögliche Verwirklichung von Zukunft imaginiert haben könnten, stellte Wilfried Knorr einige Grundfragen in den Raum.

Fragen, die in Stufe eins einzuordnen seien wären laut Knorr beispielsweise folgende: Was nehmen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wahr? Wie gebunden sind sie an und in die Organisation? Wie hoch ist der Krankenstand? Gibt es ein wirksames Eingliederungsmanagement? Welche Botschaft übermittelt die Stiftung Menschen, die eine Tätigkeit im Berufsfeld Soziale Arbeit anstreben? Wie wirksam sind die Angebote? Wie viel Berufsabschlüsse erreichen die Schulen? Wie organisiert die Stiftung Schnittstellen zu anderen Kooperationspartnern. Wie gut ist die Einrichtung auf eventuell anstehende inhaltliche Änderungen im Rahmen des SGB VIII  in Bezug auf Behindertenhilfe vorbereitet? Wie reagiert die Stiftung auf die zunehmende Säkularisierung? Welche Rolle spielen spirituelle Werte? Gibt es konzeptionelle Ansätze im gemeinsamen Austausch?

Im Rahmen der zweiten Stufe des Zuhörens thematisierte Knorr die Frage nach der Organisation von Teams und Konferenzen. Wer kümmert sich in diesen Gremien um empathisches Zuhören. Sein konkreter Vorschlag: Bei großen Themen sollten die Teams und Konferenzen für eine Stunde auf Stufe 3 und 4 kommunizieren.

Ein wichtiger Aspekt sei die Imagination vor der blinden Leinwand. Hier ginge es um eine gemeinsame Imagination auf Ebene der Institution. Wo soll das Unternehmen 2025 stehen? Knorr nannte hier als Stichworte Wachstum, Inklusion, Dezentralität vs. Zentralität, Technik, Soziale Netwereke, Beteiligung und Zielsetzung.

Als Beispiel für unterschiedliche Herangehensweise stellt er den von ihn so genannten "niederländischen Weg des Planens" gegen den "Orientalischen Weg". Erfolgreicher, so Knorr, sei der of Planing oben unten ohne Beteiligung vs. oriental way of planing. alle einbeziehen, ein Bild orientalische Weg des Aushandelns und Einbeziehens aller Akteure bevor ein Projekt in die REalität gesetzt würde. Strategische Entscheidungen sollten nur auf diesem Weg erfolgen, sollen sie erfolgreich sein.

Auf diese Weise entstünden transparente Entwürfe dessen, was als Ziel von allem imagiert wird. Im Rahmen der konkreten Handlung könnten dann zu einem frühen Zeitpunkt Fehler erkannt und gemeinsam verbessert werden.

Könne ein solches Vorgehen nicht gemeinsam mit den jungen Menschen sinnvoll sein, fragt Knorr, wie träumen die jungen Menschen Jugendhilfe? Könne dies mit einem Jugendamt gemeinsam entwickelt werden? Daraus könne ein anderes Vorgehen entstehen. Die Einrichtung der Jugendhilfe reagiert 2025 nicht auf das, auf was sie trifft, sondern gestaltet es schon heute imaginierend mit.

Wo war der Chorleiter?

Als letzten Punkt seines Vortrags thematisierte Wilfried Knorr die Frage, welches Führungsverständnis nötig sei, um die vorgestellten Prozesse geschehen zu lassen. Welches Bild von Leitung sei hierfür notwendig. Dazu präsentierte Knorr den Festgästen ein Video eines inklusiven Chors von Blinden und Sehenden, die im absoluten Einklang miteinander einen komplexen Chorsatz sangen, ohne dass ein Chorleiter zu sehen war.

Ein vor der Gruppe stehender Chorleiter, so Knorr, mache bei einer solchen Gruppe auch keinen Sinn. Gemeinsam sei den Sängerinnen und Sängern, die Idee des fertigen Liedes. Knorr zitierte in diesem Zusammhang Laotse: "Wenn du Menschen führen willst, musst du hinter ihnen gehen."

Dies, so Knorr abschließend, sei die neue Leitungsidee: Teams zu inspirieren, selbst Zukunft zu imaginieren und Prototypen zu schaffen. Theologisch argumentiert, sei es nicht die hierarchische Kirche Mose, sondern das wandelnde Gottesvolk, welches sich in diesem Bild wiederfinde.    

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Bildimpressionen der Kinderbeiträge

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