Theodor-Rothschild-Haus

Regionalbereich Esslingen und Außenstelle Dietrich-Bonhoeffer-Schule

Die Gründung der Vorläuferinstitution durch Herzog Eberhard Ludwigs im Jahre 1710 macht den heute im Theodor-Rothschild-Haus firmierenden Regionalbereich Esslingen zum mehr als 300 Jahre in die Vergangenheit zurückreichenden Bestandteil der Stiftung Jugendhilfe aktiv.

So kommen im Regionalbereich Esslingen zwei Traditionslinien zusammen, die jüdische Wilhelmspflege und das Staatliche Waisenheim Stuttgart.

Staatliches Waisenheim

Das ehemalige herzogliche, später königliche, seit 1923 staatliche Waisenheim ist eine Gründung Herzog Eberhard Ludwigs aus dem Jahre 1710. Es war eine Stiftung im Zusammenwirken mit der Oberkirchenbehörde und wurde, wie andere deutsche Waisenhäuser auch (z. B. Nürnberg, Halle und Leipzig), in einer Zeit großer sozialer Not gegründet. Als Vorbild diente das Hallesche Waisenhaus August Hermann Franckes.

Der viereckige Bau mit Innenhof erstreckt sich heute bis zum Karlsplatz, das erste Gebäude war allerdings deutlich kleiner. Es ersetzte einen Tanz- und Spielplatz vor der Stadtbmauer Stuttgarts am Nesenbach. Die ungewöhnliche Viereckform des gelben Baus geht auf den Bachlauf zurück, an dem sich die Gebäudeflügel orientieren. Ursprünglich sollte in das Gebäude die Leibgarde zu Pferd des Herzogs einziehen. Doch während der Bauzeit verlegte Eberhard Ludwig die Residenz und damit auch seine Leibgarde nach Ludwigsburg. So kam das unter Leitung von Philipp Joseph Jenisch und Baumeister Johann Ulrich Heim begonnen Bau erhielt 1710 eine andere Funktion.

Als "Waisen-, Zucht- und Arbeitshaus" sollten im Gebäude arme vater- und mutterlose Waisen, auch andere arme Kinder aufgenommen, erzogen und unterrichtet werden. Ebenso wurde es zu einer Bleibe für Menschen, die unverschuldet in Armut gerieten udn die hier durch ehrliche Arbeit vom Betteln abgehalten werden sollten. Aber auch an Vaganten, Trunkenbolde, Spieler, boshafte Eheleute, Schwärmer und Fanatiker war ursprünglich gedacht, die mit harter Arbeit, täglichen Schlägen und geringer Speise so lange traktiert werden sollten, bis eine Besserung einträte. Ein weiterer Hintergrund war der Wunsch, dass dadurch allerhand Manufaktur und Fabrikation von bisher im Land nicht hervorgebrachten Waren eingeführt werde.

1712 zogen 12 Waisen ein. Ein wenig später waren es 140. Der Tagesablauf war streng eingeteilt. Sechs Uhr morgens aufstehen, beten im Bett, waschen am Brunnen im Hof, Frühstück: Wassersuppe mit Morgenandacht; zwei Stunden Schulunterricht: Religion, Lesen, Schreiben, Rechnen; die Mädchen Stricken, Nähen, Flicken; nach dem Unterricht arbeiten: weben, spinnen, gerben; Mittagessen: Gemüse oder Suppe, zweimal in der Woche Fleisch, viermal Wein zum Essen; Spaziergang, Betstunde, Schulunterricht, arbeiten; Nachtessen mit Andacht.

Die Betten im engen Schlafsaal wurden drei- bis viermal im Jahr frisch überzogen. Von den ersten 500 aufgenommenen Kindern starben 120.

Doch in den folgenden Jahrzehnten wurde aus der Anstalt eine angesehene Schule, die auch von Bürgerkindern besucht wurde. Besonders beliebt war der jährliche Maienumzug der Waisenkinder mit Gesang durch Stuttgart.

Einen ausführlichen Überblick über die Geschichte der staatlichen Waisenhäuser bietet das Landesarchiv Baden-Württemberg.

Die Raum- und Platzfrage allerdings war ein ständiges Problem, das in den Baulichkeiten des Stuttgarter Waisenhauses am heutigen Charlottenplatz nicht zu lösen war.  Der Bau sollte abgerissen werden , um auf dem Platz ein neues Rathaus zu errichten. 1922-1924 erfolgte dann ein Umbau durch Paul Schmitthenner und es zog das 1917 gegründete Institut für Auslandsbeziehungen in das Gebäude.

Zeitgleich, 1923, erfolgte der Umzug von Kindern und Betreuern nach Ellwangen. Hier konnte die Heimpädagogik erstmals gründlich reformiert werden – ein Gruppensystem wurde eingeführt.

1934 erfolgte ein weiterer Umzug nach Schwäbisch Gmünd. Das Waisenheim wurde im ehemaligen katholischen Lehrerseminar untergebracht und ab 1940 durch die Eingliederung des katholischen Landeswaisenhauses Ochsenhausen simultan weitergeführt. Schon mit der Umsiedlung nach Ellwangen hatte der württembergische Staat das Stiftungseigentum übernommen und sich vertraglich verpflichtet, „ein Heim für alle Waisenkinder des Landes zur Verfügung zu stellen und zu unterhalten“, so niedergelegt im Staatsvertrag von 1923. „Mit nur gut ausgebildeten Erzieherinnen für jede der acht Gruppen war das Landeswaisenhaus Schwäbisch Gmünd fast zwei Jahrzehnte früher als andere entsprechende Einrichtungen auf einem hohen pädagogischen Niveau“  steht in einer alten Jubiläumsschrift nachzulesen.

In Schwäbisch Gmünd erlebte das Waisenhaus das Kriegsende und den Untergang der Diktatur in Deutschland. Da das  Haus für die Lehrerausbildung gebraucht wurde, war man wieder einmal auf der Suche nach einer neuen Bleibe. Man fand sie schließlich in einem geeigneten Gebäude in Esslingen, das bis 1939 unter Theodor Rothschild als Jüdisches Waisenhaus gedient hatte.

Der Umzug erfolgte in zwei Etappen (1953 und 1957), denn es musste dazugebaut werden. Es gelang dem damaligen Leiter, Direktor Wilhelm Schmid, erstmals einen Neubau nach eigenen Plänen durchzusetzen, das nur für sein Waisenhaus geplant und gebaut wurde. Und es gab erstmals in Baden-Württemberg Gruppenwohnungen für alters- und geschlechtsgemischte Kindergruppen.

In zwei großen Häusern mit jeweils vier Gruppenwohnungen war nun Platz für 120 Kinder, die in familienähnlichen, überschaubaren Gemeinschaften betreut wurden. Es gab eine Schule für vier Grundschulklassen und eine Förderklasse; die Kleinkinder besuchten den hauseigenen Montessori-Kindergarten. Esslingen erwies sich als idealer Standort. Alle weiterführenden Schulen waren leicht zu erreichen und das Angebot an Ausbildungsplätzen war gut.

Anfang der 80er Jahre veränderte sich die Jugendhilfelandschaft. Eine Entwicklung, der das Land als Träger aus dem Staatsvertrag heraus nicht folgen konnte. Das Land, der Landkreis Esslingen und die Stadt Esslingen suchten nach einem neuen Träger und fanden ihn schließlich in der Stiftung Wilhelmspflege in Stuttgart-Plieningen. Der Wechsel zu diesem Träger vollzog sich zum 1. Oktober 1991.

Jüdische Wilhelmspflege

Die gesellschaftliche Lage der Bevölkerung und die daraus entstehende Not für viele Kinder traf auch jüdische Familien und Kinder. Am 27. August 1831 erteilte das Ministerium die Genehmigung zu den ersten Satzungen des „Vereins zur Versorgung armer israelitischer Waisen und verwahrloster Kinder“. Der Verein betrieb die offene Waisenpflege und begann mit der Versorgung von acht Kindern. Auf 30. Oktober 1842 datiert der Übergang zur geschlossenen Waisenpflege mit der Einweihung des vom Vereins damals erworbenen Waisenhausgebäudes Esslingen in der Entengrabenstraße. Das Haus steht noch, wurde allerdings umgebaut und erweitert. 26 Zöglinge wurden aufgenommen. Zwischen 1873 und 1899 fand die Erweiterung des Hauses statt, das dann mit 40 Kindern belegt werden konnte.

Von 1899 bis 1938 war Theodor Rothschild als Hausvater Leiter des Heimes. Unter seiner Leitung wurde das neue Haus oberhalb Esslingens erbaut und die Hilfe für die jüdischen Kinder in Not bis 1938 weitergeführt. 1913 erfolgte die Einweihung des neuen Waisenhauses in der Panoramastraße oberhalb der Burg (heute Mülbergerstraße).

1945 berichtet die Witwe, Frau Ina Rothschild über die Kinder, das Leben und Arbeiten in der Anstalt: » Andererseits waren die Gemeinden in den Städten gewachsen und die Nöte andere geworden: Die früheren, von der Religion und der Familie ausgehenden Bindungen lösten sich vielfach auf; Halt- und Hemmungslosigkeit hatten auch in den jüdischen Ehen und Familien Wunden geschlagen; wirtschaftliche Not hatte auch hier sittliche Entartung erzeugt, und in vielen Fällen waren die Kinder die unschuldigen Opfer dieser Entwicklung geworden.

Die Familie war nicht mehr eine unbestrittene Schutz- und Aufbaugemeinschaft für die heranwachsende Jugend. So zogen denn Kinder von anderer Art in unser Haus ein. Kinder, die in der Entwicklung des Geistes oder des Gemütes zurückgeblieben waren, Kinder, denen sich der Druck auf die unfertige Seele legte und die dem Leben hilflos gegenüberstanden.
Dementsprechend musste auch die Einstellung zu den Zöglingen eine grundsätzlich andere werden. Der Erzieher muss aus den Erscheinungen, die er am Kinde wahrnimmt, Rückschlüsse auf dessen Innenleben ziehen, er muss den Ursachen dieser Erscheinungen nachgehen und den seelischen Zustand erfassen, aus dem vielleicht ein anormaler Kräfteablauf entspringt. Das erfordert Aussprache mit dem Kinde, eingehende Beobachtungen, genaue Aufzeichnungen, besondere Erziehungsmaßnahmen. An Kinder darf nicht der Maßstab der Erwachsenen angelegt werden. Nicht auf die Schwierigkeiten, die das Kind verursacht, ist zu achten, sondern auf diejenigen, die es hat.“

1938 wurde das Waisenheim in einem Akt der Barbarei von den Nationalsozialisten gestürmt, die Kinder wurden aus dem Haus getrieben, die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, manche nach Misshandlungen ebenfalls. Inventar und Bücher wurden zum Teil verbrannt. Ein Teil der Kinder und Mitarbeiter retteten sich ins Ausland, andere, unter ihnen auch Theodor Rothschild, kamen ins Konzentrationslager. Theodor Rothschild starb im KZ Theresienstadt 1944 an Unterernährung und Lungenentzündung.