Am 11. Oktober wurde auch 2023 auf dem Marktplatz in Stuttgart der Weltmädchentag gefeiert - im großen Stil und bereits zum dritten Mal in Folge. Daran nahmen auch Schülerinnen der Dietrich-Bonhoeffer-Schule und der Albert-Schweitzer-Schule gemeinsam mit ihren Lehrerinnen teil.
Unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen hat sich eine große Zahl von Vereinen mächtig ins Zeug gelegt, um auf das aufmerksam zu machen, was Mädchen bewegt, was sie aushalten müssen und wie stark sie gemeinsam sein können. Die Stiftung Jugendhilfe aktiv, die Caritas, der Mädchen*gesundheitsladen, Radio MoMO, die EVA und viele weitere tolle Vereine sind gekommen und feiern ein großes Fest des Widerstandes und der Solidarität.
Farbenreiche Bücher, wummernde Lautsprecher, dröhnende Bohrmaschinen, klebrige Bastelstationen, eine Bühne, ein sehr geheimnisvolles Zelt, eine Beach-Lounge, eine Cyber-Medienecke und Berge von duftenden Muffins werden präsentiert. Sogar eine mobile Radiostation ist gekommen, um den Mädchen Stuttgarts eine Stimme zu geben. Viele Kinder basteln sich bunte Buttons, Anhänger und Tattoos und die meisten tragen das regenbogenfarbene Armband mit dem bunten Logo des Weltmädchentages. So sehen Vielfalt und Kreativität aus.
Und dann - ein Bild des Schreckens: Vor einer lebensechten Figur aus Styropor kniet ein entzückendes blondgelocktes Mädchen in einem lilafarbenen Tüll-Rock. Sie liest gebannt angepinnte Zettel, die bei näherer Betrachtung dieses zauberhafte Bild zerfetzen. Hier steht, was man nicht seinem ärgsten Feind zumuten möchte. Die Plastik-Figur ist regelrecht beschmutzt von brutaler Kritik am intimsten Bereich junger Menschen - ihrem Körper. Jede Gemeinheit, die hier zu lesen ist, ist einem Mädchen tatsächlich widerfahren und hat sich für immer in ihre Seele eingebrannt. Hier steht, welche Körperteile von anderen für „hässlich“, „zu dick“, „zu dünn“, „zu groß“, „zu klein“, „zu flach“ oder für „zu fett“ befunden worden sind. Dieses schändliche Mahnmal gibt Auskunft darüber, was Mädchen auch 2023 noch immer an Beleidigungen und Boshaftigkeiten einstecken müssen.
Was augenscheinlich ein fröhliches Fest zu sein scheint, ist eigentlich eine erschütternde Angelegenheit. Warum müssen sich Kinder in unserer Gesellschaft für ihren Po rechtfertigen? Seit wann müssen sich junge Menschen von anderen beurteilen lassen, weil sich ihr Körper entwickelt? Wer bestimmt über die Sexualität einer jungen Frau? Es ist eindeutig wieder an der Zeit für Frauen jeden Alters(!), sich Gehör zu verschaffen und für das Recht auf Respekt und Würde zu kämpfen. Heute sind Mädchen anwesend, die sich trauen, den Mund aufzumachen, die die Angst vor Ablehnung satthaben und solidarisch für Mädchen in aller Welt sprechen wollen:
Zum Ende der Veranstaltung erklingt plötzlich eine Triggerwarnung und der ganze Rathausplatz hält inne. Eine junge Frau namens Lilith tritt ans Mikrophon und hält eine bewegende Rede über Fremdbestimmung und darüber, wieviel Kraft es sie gekostet hat, sich aus einer abhängigen Beziehung zu lösen. Unter Tränen und zitternd stellt sie sich mutig und für alle Welt sichtbar und vor allem hörbar mitten in Stuttgart ans Mikro und teilt ihren Schmerz mit erschütterten Zuhörern und Zuhörerinnen. Zum Glück ist sie nicht alleine hier – sofort nach ihrer bedrückenden Rede wird sie von einer Freundin umarmt und gehalten.
Kurz darauf berichtet ein Mädchen namens Leo von Sprüchen und Kommentaren, die sie für Narben an den Armen einstecken musste: „Ohne deine Narben wärst du viel hübscher“, hat man ihr zugezischt. Völlig ungefragt, aus dem nichts hat man sie schwer gekränkt. Einfach, weil es einem Typen so eben durch den Kopf ging in der Straßenbahn. „Wer gibt euch das Recht über mich zu urteilen?“, fragt sie so laut, dass es über den ganzen Platz hallt. „Keiner hat das Recht über mich oder meinen Körper zu urteilen!“. Umwerfend klar Worte für ein junges Mädchen und völlig unmissverständlich. Leo schließt mit einer nachdenklichen Doppeldeutigkeit: „Meine Narben sind ein Teil von mir“.
Durch ihren Mut hat sie heute viele Menschen ins Grübeln gebracht. Vielleicht lohnt es sich, das Recht auf Würde auch für sich selbst einzufordern?
Der heutige Tag gibt Hoffnung, dass all unsere Narben irgendwann einfach ein Teil von uns sein dürfen: Wo so viele Mädchen zusammen stark sind, ist alles möglich.
Das Thema stand auch im Mittelpunkt eines Kunstprojekts der Mädchen*klassen unserer Albert-Schweitzer-Schule unter dem Titel "Die Haut in der ich wohne". Hier der interne Link zum Film.